
Fotografien aus Zımeq
Mein kurdisches Dorf in Dersim, 1983–2019
Mehmet Emir
ISBN: 978-3-99126-337-1
29,5×21,5 cm, 368 Seiten, zahlr. z.Gr.-T. farb. Abb., fadengeheftetes Hardcover m. Schutzumschl. | Text überw. dt., Zsfassungen auch in engl. Spr. & Zazaki
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Kurzbeschreibung
„Fotografien aus Zımeq – Mein kurdisches Dorf in Dersim, 1983–2019“ erzählt bildstark von den vielfältigen Veränderungen eines kurdischen Dorfes über fast vier Jahrzehnte. Es gewährt auch Einblicke in Alltag und Geschichte einer ganzen Region – aus der Perspektive von Mehmet Emir, Fotograf und Wahlösterreicher, aber vor allem einer, der in Zımeq aufgewachsen ist. (Maria Six-Hohenbalken)
“Fotografien aus Zımeq – Mein kurdisches Dorf in Dersim, 1983–2019” tells the visually powerful story of the many changes in a Kurdish village over almost four decades. It also provides insights into everyday life and history of an entire region – from the perspective of Mehmet Emir, photographer and Austrian by choice, but above all one who grew up in Zimeq.
„Fotografien aus Zımeq – Mein kurdisches Dorf in Dersim, 1983–2019“ bi resmanê quvetin xêlê vurrnayîsanê ju dewa kurdî yê çewres serran ra jede ano ra zon. Bi nîyadayîsê fotografvan û hemwelatê Avusturya Mehmet Emîr, ke her çî ra avê Zimeq de bîyo pîl, weşîya rozane û tarixê ju mintiqa yeno verê çiman.
Das vorliegende Buch von Mehmet Emir gibt Einblick in die rasante Veränderung einer dörflichen Gemeinschaft. Es ist Fotoband und Dorfmonographie zugleich, und noch viel mehr als das.
Zeitlich umfasst der Band nahezu vier Jahrzehnte photographischer Dokumentation und eine noch weiter zurück reichende Darstellung der Geschichte des Dorfes Zımeq. Neben Mehmet Emirs eigener Migrationsgeschichte und seinen persönlichen Zugängen und Erinnerungen beleuchten einzelne Beiträge anderer AutorInnen etwa die dreihundertjährige Geschichte der Region und des Dorfes, die damit verbundenen Migrationsverläufe oder die Spezifika von Emirs photographischer Arbeitsweise.
Durch seine unermüdliche Dokumentationsarbeit hat Mehmet Emir Zimeq, das Dorf seiner Kindheit, photographisch und ethnographisch festgehalten, und das zu einer Zeit, als er schon in Wien seine zweite Heimat und seinen Lebensmittelpunkt gefunden hatte.
Das Dorf Zımeq, aus dem Mehmet Emir stammt, liegt in Dersim (Tunceli) im Bezirk Hozat. Die DorfbewohnerInnen sind AlevitInnen, die Zazaki sprechen.
Der Autor Şükrü Aslan stellt auf der Basis umfassender Archivrecherchen die Geschichte des Dorfes dar: Zımeq durchlief im vergangenen Jahrhundert viele soziale und ökonomische Transformationsprozesse und erlebte unglaubliche politische Gewalt. Die Massengewalt an der alevitischen Bevölkerung in Dersim in den Jahren 1937/38 machte auch vor Zımeq nicht Halt. Genaue Opferzahlen sind nicht bekannt, allerdings gab es kaum eine Familie, die keine Opfer zu beklagen hatte. Über ein Jahrzehnt mussten manche der Überlebenden im Westen der Türkei ausharren und durften nicht zurückkehren. Der tiefe Einschnitt in das Leben der einzelnen Menschen und des ganzen Dorfes resultierte oft in Schweigen über die schrecklichen Erfahrungen. Mehmet Emir gelang es mit seinen filmischen und ethnographischen Arbeiten, dieses Schweigen zu brechen, und auch mit der photographische Dokumentation macht er auf das Schicksal der Überlebenden aufmerksam.
Die BewohnerInnen von Zimeq erhielten weder eine Wiedergutmachung noch eine offizielle Anerkennung des enormen Unrechts, das sie erfahren hatten. Drei Jahrzehnte nach den schrecklichen Ereignissen von 1937/38 begannen die nächsten Einschnitte und Transformationsprozesse in der Dorfgeschichte: In den späten 1960er Jahren war die Bevölkerung aufgrund der wirtschaftlichen Situation gezwungen zu migrieren. Die Anwerbeabkommen mit mehreren europäischer Länder boten eine Möglichkeit, durch Arbeitsmigration das wirtschaftliche Überleben der Familien zu sichern.
In den folgenden Jahren zog es viele DorfbewohnerInnen nach Deutschland, Frankreich, Belgien und Holland. Einige begannen ihre Familien nachzuholen – für das Dorf bedeutete das einen enormen Bevölkerungsrückgang, der die Schließung der Dorfschule und das Abwandern der verbliebenen DorfbewohnerInnen in die größeren Städte der Türkei zur Folge hatte. Erstaunlich jedoch ist, dass die ZımeqerInnen eine unglaubliche Verbundenheit mit ihrem Herkunftsort zeigten und noch immer zeigen. Jährliche Heimatbesuche sind beinahe eine Verpflichtung, ebenso Investitionen in die Dorfhäuser, und auch der soziale Zusammenhalt bleibt stets erhalten, selbst über nationale Grenzen hinweg.
Hıdır Emir, der Vater von Mehmet Emir, war einer der ersten Arbeitsmigranten in Wien. Über dreißig Jahre war er im Straßenbau tätig und konnte dadurch mit seiner Familie nur einige Wochen im Jahr beisammen sein. Nach einigen Jahren holte er auch seinen Sohn nach Wien. In seiner Vorstellung sollte Mehmet in seine Fußstapfen treten, ebenfalls im Straßenbau tätig sein und das hart verdiente Geld in en eigenes Geschäft investieren. Diese Pläne sollte und wollte der Sohn aber nicht verfolgen.
Mehmet Emir zog es in ganz andere berufliche Sphären. Er war in Österreich in vielen künstlerischen Bereichen tätig, als Musiker, als Photograph, als Schauspieler und als Sozialarbeiter. Heute ist er Experte für Digitalisierung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Bei all dem hat er aber nie die Sehnsucht nach seinem Dorf vergessen, sondern ist jedes Jahr nach Dersim gereist, um sein Herkunftsdorf und dessen BewohnerInnen zumindest photographisch festzuhalten und diese immer mehr transnationale Dorfgemeinschaft auf Fotos, Film- und Audioaufnahmen mit nach Wien zu nehmen. Das Ergebnis ist eine akribische photographische Dokumentation mit einem ebenso autoethnographischen wie künstlerischen Zugang – über mehrere Jahrzehnte hinweg. Diese liegt nun erstmals in Buchform vor.
Besonders wichtig ist für Mehmet Emir, den Überlebenden von 1937/38, von denen viele mittlerweile verstorben sind, durch Porträtaufnahmen und kurze Darstellungen ihrer Lebensgeschichten ein Denkmal zu setzen.
Einzelne Bereiche des Dorflebens sind photographisch so festgehalten, dass die BetrachterInnen die enormen Transformationsprozesse in der Architektur, der Landwirtschaft und im sozialen Leben nachvollziehen können.
Was Mehmet Emir mit seiner hingebungsvollen Tätigkeit gelungen ist (anfangs nicht intendiert, da die Photographie für ihn ein sehr persönliches Mittel war, um den Bezug mit seiner Herkunftsregion herzustellen und aufrecht zu erhalten), ist die einzigartige multimediale Langzeitstudie eines Dorfes und seiner BewohnerInnen, die von tiefer emotionalen Verbundenheit zeugt.
[artedition · Verlag Bibliothek der Provinz]
[Titelvariante: »FOTOGRAFIEN AUS ZIMEQ«]
Rezensionen
Gregor Auenhammer: Leben, einfach leben„Ich bin seit über 40 Jahren in Wien. Mit 16 Jahren habe ich mich entschieden, die Stadt Elazig und mein Herkunftsland zu verlassen, um in Österreich Fußballer zu werden. Mein Vater war einer der ‚ersten Generation‘, die nach dem Assoziierungsabkommen zwischen Österreich und der Türkei als Migranten nach Österreich zum Arbeiten gekommen sind. Menschen wie mein Vater waren die ersten Werbeträger der westlichen Konsumgesellschaft“, erzählt Mehmet Emir im Vorwort seines melancholischen Fotoalbums. Emirs Traum von einer Karriere als Fußballprofi zerbricht an der Realität wie das in seinem Kopf imaginierte Bild vom Leben im Westen. Fotos, die sein Vater in Briefen an die in der Heimat Zurückgebliebenen geschickt hatte, hatten eine ganz andere Realität vorgespielt; mit Palais, Parks, schönen Anzügen. Als Mehmet Emir zum Vater nach Wien zieht, ist er mit der Wahrheit konfrontiert. Er wohnt wie fast alle Gastarbeiter in einer dreckigen Baracke, zu viert auf 15 Quadratmetern, lebt in Ausgrenzung. Mehmet Emir findet Arbeit in einer Baufirma, asphaltiert Straßen, spielt Fußball, ohne ein Wort zu verstehen. Im Gegensatz zum Vater, der wie seine Kollegen nie daran denken, Deutsch zu lernen, besucht Emir Abendkurse, lernt Deutsch. Wegen der Entfernung – eine „Weltreise“ bedeutend – besucht er immer nur einmal im Jahr seine Familie im Heimatdorf. Während dieser Zeit „zu Hause“, das zunehmend keines mehr ist, dokumentiert er das Dorfleben, den Alltag, Menschen, Hochzeiten, Leben, Tod, Architektur in „seinem Dorf“. Vergänglichkeit wird in seinen Fotografien spürbar, nahbar. Fremd ist der Fremde in der Fremde …
(Gregor Auenhammer, Rezension im Standard-Feuilleton „Album“ vom 15. Februar 2025, S. A 7)