Mitten am Rand
Roman
R.J. Helscher
ISBN: 978-3-85252-277-7
21 x 15 cm, 146 S., Hardcover
15,00 €
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Kurzbeschreibung
Das Leben ist keine Generalprobe
Die Großstadt entfaltete ihren ausgewogenen Glanz im herbbitteren Spätsommer, wenn die billigbietenden Reisebüros insolvent wurden und abertausende Wiener bar jeglicher Rückholversicherung im verschmutzten Sand algen-verschleimt vor ihrem Hotel strandeten. Die geprellten Urlauber zeigten sich fassungslos darüber, dass sie für ihr zuweilen noch nicht verdientes und von der Bank vorgestrecktes Geld keine Gegenleistung erhalten sollten. Ich lächelte bedenklich über die vielen, vom Wohlfahrtsstaat erst in die Arbeitslosigkeit, dann in die Ferne getriebenen prosperösen Urlaubsfetischisten. Die beträchtliche Finanzunterstützung der Beschäftigungslosen war von den aufgeweichten Hirnen der koalierenden Regierungsköpfe ursprünglich beschlossen worden, um die heimische Wirtschaft anzukurbeln. Arbeitslose hatten ausreichend Zeit und Kaufkraft, die Inflationsrate zu senken und das Handelsvolumen des Landes zu vergrößern. Diese jedoch nahmen die verantwortungsvolle Aufgabe nicht an und reüssierten mit dem ihnen anvertrauten Geld spekulativ als hawaiibehemdete Yuppies der Restplatzbörse, wenn es ihnen gelang, um kreditgenommene 2500 Schillinge pro Person eine Woche Kreta inklusive zwei Zenrilker Ouzo als Begrüßungsdrink in der Umgebung von Heraklion zu verbringen. So mancher zurückgebliebene Zeitgenosse depressierte bei der bloßen Vorstellung in die Agonie, wie seine Landsleute zwischen fersengeilen Seeigeln und heferestigen Bierflaschen den Strand mit jenen Hooligans teilten, die am Boden der einstmaligen minoischen Kultur zwischen Knossos und Malia auf ihre ganz individuelle Art berechtigte Sozialkritik in die brutale Tat umsetzten und den für den Tourismus als Erholung gedachten Aufenthalt unter den Olivenbäumen zum Abenteuerurlaub aufwerteten.
Ich fuhr auf den Vienna International Airport, dem vormaligen Flughafen Wien-Schwechat, um Valerie, eine Freundin aus Norddeutschland, abzuholen, die ich vor vielen Jahren während meines Medizinstudiums kennen gelernt hatte. Ihr Vater hatte sich seinerzeit bei einem flüchtigen Aufenthalt in Marseiile in eine französische Stripteasetänzerin gleichen Namens verliebt, seine Frau brachte neun Monate später eine Tochter zur Welt. Sie erhielt den Namen der Tänzerin und entwickelte im Lauf der Jahre jene französische Anmut, die schon ihrem Vater Tatkraft verlieh. Ich benutzte die Flughafenautobahn, die ihren Weg durch Simmering und die von der örtlichen Ölgesellschaft laxariv veräußerten übelriechenden Luftexkremente nahm. Der raffinierte Gestank wurde mit dem jaktierenden Ausstoß der Entsorgungsbetriebe Simmering vermischt und durch die Abfälle der sogenannten Tierkörperverwertung und der Hauptkläranlage säuerlich angereichert. Die aufsteigenden dampfenden Gerüche hüllten den ins Flugfeld gebetteten fernen Tower versmogt in transparent rosrigroten Dunst. Die Kläranlage war erst unlängst in das empörte Zentrum der Kritik wohlwollender Berufsfischer geraten, die nicht ohne Sorge bemerkten, dass ihre früher fette Beute seit Inbetriebnahme der Kläranlage flussabwärts gefischt nunmehr klein, mager und geschmacklos ausfiel. Auch die Stammkunden im nahegelegenen Fischrestaurant Orth bestätigten die gemachte Beobachtung: Der Saibling hatte den ureigentümlichen Goüt des Donautales verloren.
Weitere Bücher des Autor*s im Verlag:
Club der Enthirnten
Klinische Neuropsychologie
Völlig dazwischen